Das War Requiem von B. Britten – eine Interpretation

Benjamin Brittens War Requiem ist eine herausragende Totenmesse, die Britten unter dem Eindruck des gerade beendeten   Zweiten Weltkrieges konzipierte und vier Freunden widmete, die ihr Leben in   diesem Gemetzel hatten opfern müssen.

„My subject is war, and the pity of war, the poetry is in the pity. All a poet can do today is warn. („Mein Thema ist der Krieg und das Leid des Krieges. Die Poesie liegt im Leid. Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen.“ Wilfred Owen (1893-1918), von Benjamin Britten als Vorwort vor die Partitur des   „War Requiem“ gesetzt).
Er schuf damit keinesfalls eine Totenmesse, wie sie in vielen Werken vorlagen und aufgeführt wurden. Britten intendierte mit seiner Komposition die Brandmarkung des Krieges an sich, seine Sinnlosigkeit und Brutalität, aber insbesondere die Hoffnungslosigkeit und schließlich den Tod derjenigen, die ihn, aus welchen Gründen auch immer, führen mussten. Das „Libretto“ sollte sich daher nicht allein aus dem Ordinarium der lateinischen Totenmesse (Missa de profunctis)   requirieren, das er ohnehin durch die Hinzunahme des „Libera me“ und des „In paradisum“ erweiterte. Gleichsam in Kontrapunktion zum lateinischen Messordianarium fügte er Texte des oben zitierten englischen Dichters Wilfred Owen an, der als Soldat kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges in Nordfrankreich gefallen war. Und Britten verteilte die Rollen. Während Chor, Kinderchor und Solosopran im Wesentlichen in der Vertonung des lateinischen Urtextes zum Einsatz kommen, überlässt er den männlichen Solisten den Vortrag der Owenschen Gedichte. Hinter allem und in allem steht die dramatische Begleitung durch ein großes Orchester, aus dem sich im Bedarfsfall ein Kammerorchester oder eine schlichte Orgelbegleitung herausbilden.

Hier zeigt sich die große Gegensätzlichkeit innerhalb des Werkes, hier Owens poetische Lyrik, die die grausame Sinnlosigkeit des Krieges in Beziehung auf das betroffene Individuum darzustellen sucht, dort der traditionelle Text des Christentums, der insofern eine eher untergeordnete Bedeutung erfährt. Die Gegenüberstellung des Großen mit dem Kleinen, der Bedeutung politischer Entscheidung durch Mandatsträger einer wie auch immer gearteten Gesellschaft für den Einzelnen, wird hier im ultimativen Grenzbereich des Szenarios „Krieg“ dargestellt. Dabei übt der erklärte Pazifist Benjamin Britten völligen Verzicht auf Parteilichkeit. Er sieht jeden einzelnen Beteiligten, jeden einzelnen Soldaten in seiner hoffnungslosen Situation. Es ist kein bombastisches Stück, viel eher an vielen Stellen ein Werk der stillen Trauer und des Gedenkens an die Kriegstoten. Musikalisch steht seine   Vertonung in recht enger Beziehung zu Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“, die an einigen Stellen widerhallt, insbesondere dort, wo Britten die lateinische Liturgie vertonte. Durch die Unterordnung der liturgischen Texte erreicht Britten paradoxerweise eine Betonung derselben. Im Wechselspiel des szenarischen   Ablaufes, hier Kammerorchester und männliche Solisten, dort Solosopran, Chor,   Kinderchor und Orchester, erarbeitet er eine Dramatik, die die Liturgie zu durchdringen beginnt und schließlich dem religiösen Trauerritual eine ungewöhnlich scharfe Konturierung verleiht.

Besonders eindringlich gelingt dies im Offertorium, wo zwischen dem „Quam olim Abrahae“ und seiner Reprise ein Text Owens steht, der von Abrahams Bereitschaft erzählt, seinen eigenen Sohn zu   opfern, der allerdings ein ganz anderes Ende präsentiert, als es aus der Bibel bekannt ist: Abraham hört nicht auf den von Gott gesandten Engel, der das Opfer verhindern will und soll, sondern schlachtet seinen Sohn. („But the old man would not so, but slew his son, – And half the seed of Europe, one by one.“) “Und die halbe Saat Europas, einen nach dem anderen“: Eine Klage gegen den Urvater   Abraham, der die christliche Glaubensgemeinschaft gleichsam symbolisieren soll, die in der Menschheitsgeschichte versagt hat, wenn es um die Verhinderung kriegerischer Auseinandersetzungen und die Bewahrung des Lebens ging. Eine Klage gegen die Christen, die das Siebte Gebot lediglich als ein fakultatives Ordnungsprinzip menschlichen Handelns und Miteinanders interpretierte.

Die musikalische Rahmung des „Quam olim Abrahae“ deutet die endlosen   Opferzahlen. Während man im ersten „Quam olim Abrahae“ in kargen und zerfetzten Klängen Bataillone von Soldaten mit grimmigem Eifer in den Krieg marschieren zu hören glaubt, verharrt die Reprise im gespenstischen Pianissimo, das die grausame Dezimierung des Nachwuchses symbolisiert. Und zuvor tut sich im „Hostias“ ein Spannungsfeld auf, das sich zwischen dem fernen, nur durch das Orgelspiel begleiteten Gesang der Kinder, die den lateinischen Text vortragen, und den rüde (half the seed of Europe, one by one) einfallenden Solisten auftut. Das Gesamtszenario klagt die sinnlose und zahllose Opferung von Menschen gegen den erklärten Willen eines machtlosen Gottes.

Vielleicht lässt Britten daher am Ende des „Agnus Die“ den Solo-Tenor nicht wie der Requiemtext es vorsieht mit „Dona eis requiem aeternam“ (Gib ihnen die ewige Ruhe), sondern mit „Dona nobis   pacem“ (Gib uns Frieden) enden. Brittens eindringliche Mahnung an uns, die Lebenden, Friedfertigkeit zu üben und nach Versöhnung zwischen den Völkern zu streben. Dies ist die wichtigste Botschaft des Gesamtwerkes und der Wunsch des Pazifisten Britten neben dem selbstverständlichen Andenken an die in den Kriegen Gestorbenen.

Den Sündenfall der Menschheit in der Geschichte reflektiert Britten in einem   aufwühlenden „Libera me“, das angst und bange macht. Aber er belässt es nicht bei düsterer und verzweifelter Stimmung. Den Abschluss bildet eine Überlagerung des dem Messordinarium hinzugefügten Hymnus „In paradisum“ für Chor, Kinderchor   und Solosopran, und dem zärtlich eingebunden „Let us sleep now“ der männlichen Solisten. Verzweiflung, Schuld, Sünde, Klage und Anklage richten sich in die Vergangenheit, die Hoffnung richtet sich auf eine Zukunft, die befreit sein möge von bewaffneten Auseinandersetzungen. Nur dann wird das sinnlose Sterben so vieler Menschen, denen allein der Abschluss des Werkes gewidmet ist, einen Sinn gehabt haben können. „Requiescant in pace, Amen, Amen.“

Er hätte sich keinen passenderen Ort für die Uraufführung seines „War Requiem“ geboten bekommen können, als die Kathedrale von Coventry, die im Zweiten Weltkrieg während der Luftschlacht um England zerstört worden war und am 30. Mai 1962 nach der Neuerrichtung mit seinem berührenden Werk eingeweiht wurde und von der mit der „Nagelkreuzbewegung“ der Ruf nach Versöhnung an die ganze Welt erging. Und Britten hätte keine geeignetere Besetzung des Gesamtwerkes beabsichtigen können, als die Russin Galina Wischnewskaja (Sopran), den englischen Tenor Peter Pears sowie den deutschen Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, Sänger unterschiedlicher Nationen, und einen großen Chor und Kinderchor, die stellvertretend für die Menschheit insgesamt singen.

Autor: Dr. August Hülsmann, Coesfeld

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