Einführung in Benjamin Brittens War Requiem


Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus einem Vortrag von Prof. Daniel Göske

Benjamin Britten war sicher der bedeutendste englische Komponist des 20. Jahrhunderts. Er komponierte zahlreiche Opern, Chorwerke und Musik fast aller anderer Gattungen. Das „War Requiem“ zählt zu seinen wichtigsten Werken. Es rechnet mit großem Chor, Knabenchor, drei Solisten und großem Orchester mit vier Schlagzeugern, Glocken, Klavier, Bläsern und Streichern. Dazu kommen ein Kammerorchester und Orgel. Damit zählt es zu den größtbesetzten Werken überhaupt. Das „War Requiem“ komponierte Britten 1961 zur Wiedereinweihung der Kathedrale von Coventry, die am 17. November 1941 von der deutschen Wehrmacht zerstört wurde. Dieser sinnlose Zerstörung steht mit vergleichbaren Katastrophen in Deutschland stellvertretend für die Grauen des Weltkrieges.

Brittens moderne Totenmesse, die für die Opfer vergangener und kommender Kriege geschrieben wurde, verschränkt den uralten lateinischen Wortlaut der römisch-katholischen Missa pro Defunctis mit neun ungewöhnlich formvollendeten Gedichten des engl. Lyrikers W. Owen. Die musikalische Großstruktur des Werks kann man vielleicht am besten als Zusammenspiel von drei Ebenen bzw. Klanggruppen begreifen.

Da ist zunächst das Grundgerüst der lateinischen Totenmesse – liturgische Gebetstexte in Gedichtform, gesungen vom Chor, manchmal zusammen mit dem Solo-Sopran, begleitet vom großen Orchester.

Die zweite, oberste Ebene bildet der Knabenchor. Seine schlichten, beinah sphärischen Klänge haben oft einen Ausdruck von leidenschaftsloser, jenseitiger Reinheit.

Die dritte Klangformation ist ganz diesseitig, subjektiv getönt, mal liedhaft, mal dramatisch. Sie entsteht im Zusammenwirken des Kammerorchesters und der beiden männlichen Solisten. Sie singen in englischer Sprache, sie singen vom irdischen Inferno – vom Chaos und vom Leid des Krieges, aber auch von dem Mitleid, das er mit sich bringt.

Benjamin Brittens Entschluss, Owens Gedichte neben und zwischen die sechs wichtigsten Abschnitte der „Missa pro Defunctis“ zu setzen, hat ein im besten Sinne zwiespältiges, modernes Meisterwerk hervorgebracht. Es wird auch diejenigen aufwühlen, denen die furchtsame Inbrunst des Textes der römisch-katholischen Totenmesse fremd bleibt, sogar in den Vertonungen von Palestrina, Mozart, Berlioz, Bruckner und Verdi. Für Brittens War Requiem gilt das nicht. Das liegt vor allem wohl daran, dass Owens englische Gedichte hier in einem vielfältig gebrochenen, durchaus nicht nur ironischen Spannungsverhältnis zur althergebrachten lateinischen Liturgie stehen.

Der alte Text der Messe hat auch in den Passagen abgrundtiefer Angst noch den Charakter eines gläubigen (also: hoffnungsvollen) Gebets an den Schöpfer und Erlöser. Von dieser manchmal verzweifelten Hoffnung ist in Owens Gedichten nichts mehr zu spüren. Ihre Perspektive ist die der Opfer, die zugleich Täter sein mussten, und für die ein guter Gott nicht mehr erkennbar war.

 zitiert nach Prof. D. Göske